Interview mit Anna Bruckner

Anna Bruckner, Jugendreferentin im DGB-Bundesvorstand und ehemalige IUSY Vice President, Interview mit Frederic Gerken

Interview zum Anhören

Frederic Gerken: Wir sitzen hier gemeinsam im Park in Neukölln, ich habe dich zum Interview gebeten, weil wir sprechen wollen darüber, wie du den Anschlag in Utøya mitbekommen hast in deiner Funktion als Organisatorin des IUSY World Festival 2011. Meine erste Frage an dich ist: Wo warst du, als du von dem Anschlag erfahren hast?

Anna Bruckner: Genau, ich war natürlich nicht die Organisatorin, sondern so wie alles, dass man irgendwie so im Leben organisiert und miteinander schafft, geht das immer nur im Team, und ich war sozusagen die Projektleitung von dem Organisationsteam des IUSY World Festival auf dieser organisatorischen Ebene. Und wir waren am Attersee in Österreich am Europacamp. Das ist das Camp der Sozialistischen Jugend dort. Und wie das immer so dort ist, hat es natürlich in Strömen geregnet. Darauf kann man sich wirklich immer verlassen. Und das war schon beim Aufbau so, also auch während des Festivals. Und wir waren gerade mitten im Aufbau. Wir waren ganz viele Leute aus der Sozialistischen Jugend und das Büro und ganz ganz ganz viele Ehrenamtliche. Und wir waren eigentlich, also bereit ist jetzt übertrieben, weil wir hatten natürlich noch ne Menge zu tun, aber wir waren bereit dafür, dass die dreitausend Gäste aus der ganzen Welt zu uns kommen. Und wir miteinander eine Woche über Sozialismus diskutieren, und den Sozialismus feiern. Und dann kam diese Nachricht, und wir haben zuerst noch gar nicht über das Attentat auf der Insel gehört und wie das dann halt so ist, wenn politische Leute zusammenhängen, man verfolgt ja die Nachrichten, und dann war zuerst das Attentat in der Innenstadt, und das haben wir so vernommen sozusagen, „ah okay, war scheiße“, aber wusste ja irgendwie noch gar nichts. Und man hat das irgendwie mal zur Kenntnis genommen, dass da irgendwie was Doofes passiert ist. Und dann kam die Nachricht, dass auf der Insel, wo unsere Genoss*innen und Genossen sind, ein Attentat ist. Und, genau, wir waren da gerade am Camp, und das war, ehrlich gesagt, erstmal komplett surreal. Die einzige Person, die es wirklich, ein bissel realisiert hat, war meine Genossin Sandra Breiteneder, weil die damals die internationale Arbeit gemacht hat und deswegen sehr viele Leute kannte, die auf der Insel gerade waren, auf Utoya waren.

FG: Und was war dann eure erste Reaktion, also habt ihr mit dem Aufbau aufgehört, und euch erstmal zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie ihr jetzt weiter verfahrt? Wie war das?

„Uns war ganz schnell sehr klar, dass wir das Festival nicht absagen würden“

Anna Bruckner

AB: Also es war so, dass es unterschied gab im Team zwischen jenen, die gerade wirklich realisieren, was passiert, und jenen, die das gerade überhaupt nicht einordnen können. Die Tragweite war in dem Moment eigentlich überhaupt nicht klar, sondern es ist ja immer so Schritt-für-Schritt, peu à peu rausgekommen, was da eigentlich gerade wirklich passiert. Und dass das auch eben eine politisch motivierte Tat von rechts ist. Ich glaube, wir haben es realisiert, als wir als Orgateam plötzlich in die Realität gerissen wurden, weil wir plötzlich mit dem Innenministerium sprechen mussten, weil wir plötzlich den Bundeskanzler am Telefon hatten, und die Parteivorsitzende der SPÖ, die uns gefragt hat, ob wir das denn jetzt überhaupt machen könnten, dieses Festival umzusetzen. Also es war eine Situation, wo klar war, einerseits werden auf organisatorischer Ebene gerade Bombenspürhunde angemeldet, die jetzt über das Camp gehen würden, und gucken würden, ob da für uns eine Bedrohungslage da ist, und auf der anderen Seite eben die politische Fragestellung: Was ist das richtige zu tun? Ist es das richtige, abzusagen? Oder ist es das richtige, nicht abzusagen? Und für beides gibt es ja ganz viele Argumente und gab es ganz viele Argumente. Und es war, ehrlich gesagt, ganz schnell sehr klar, dass wir nicht absagen würden.

FG: Kannst du noch einmal grundsätzlich etwas zum Festival sagen, ob das regelmäßig stattfindet, was so die Zielgruppe ist, wer da so kommt?

AB: Also das IUSY Festival ist das internationale Festival der sozialistischen und sozialdemokratischen Jugendorganisationen, und das findet in regelmäßigen Abständen an verschiedenen Orten in der Welt statt. In so einem Turnus mit dem europäischen Festival. Und das ist das IUSY World Festival, das in einer ganz langen Tradition steht. Und die Zielgruppe sind junge Leute, die aktiv sind in sozialdemokratischen/sozialistischen Jugendorganisationen auf der ganzen Welt. Und die kommen von allen Kontinenten herbeigetingelt. Wir verbringen eine Woche miteinander, um miteinander zu diskutieren, Workshops und Panels zu besuchen, aber auch um Spaß zu haben, zu tanzen, zu knutschen, sich zu verlieben.

FG: Du sagtest eben, dass ihr euch sehr schnell dafür entschieden habt, das Festival trotzdem stattfinden zu lassen. Und es waren ja auch Überlebende vom Anschlag als Gäste angemeldet. Wie seid ihr damit umgegangen?

„Es war eigentlich ein Geschenk, dass das Festival so kurz danach stattgefunden hat. Dass es die Möglichkeit gab, zusammenzukommen, und einerseits einander zu trösten, aber auch einfach einander in die Augen zu gucken, und sich zu vergewissern, dass das, wofür du jeden Tag streitest, dass du das nicht loslässt“

Anna Bruckner

AB: Genau, wir haben ganz schnell entschieden, dass es stattfinden soll. Die Idee dahinter war erstmal, dass wir gerade in der Situation sind, von einem kollektiven Schock für die ganze Bewegung. Und in dem Moment von kollektiver Trauer. Und Menschen gehen unterschiedlich um mit so Situationen, wo man irgendwie ohnmächtig ist. Und uns war klar, eigentlich kann uns nichts besseres passieren, als so kurz nach einem Attentat auf nicht nur unsere Genoss*innen, sondern auch auf alles, wofür wir stehen, dass wir die Möglichkeit hatten, zusammenzukommen. So doof es klingt, das war eigentlich ein Geschenk, dass das Festival so kurz danach stattgefunden hat. Dass es die Möglichkeit gab, zusammenzukommen, und einerseits einander zu trösten, aber auch einfach einander in die Augen zu gucken, und sich zu vergewissern, dass das wofür du jeden Tag streitest, dass du das nicht loslässt. Wie sind wir denn damit umgegangen, dass da auch Leute angemeldet waren, die da auf der Insel waren? Also ganz praktisch hat das erstmal bedeutet, dass auf der einen Seite sich die Teilnehmer*innenzahl um die Hälfte reduziert hat. Oder nicht ganz die Hälfte. Weil ja nach so einem Attentat nicht alle in der Delegationsstärke gekommen sind, aber die Verbandelung zwischen den skandinavischen Ländern einfach sehr eng ist, und daher ganz viele Menschen ihre Freundinnen und Freunde verloren haben. Und auf der anderen Seite hat es ganz praktisch bedeutet, dass der erste Abend, eigentlich ist das die fette Party, der Abend, wo du dich politisch einschweißt miteinander und erstmal Bierchen trinkst und tanzt, nicht so stattgefunden hat. Wir haben dann entschieden, dass dieser erste Abend zu einer Gedenkveranstaltung werden soll. Und der Ministerpräsident aus Norwegen Jens Stoltenberg kam höchstpersönlich. Sigmar Gabriel kam. Und Werner Faymann, der damalige Bundeskanzler aus Österreich kam. Und am Attersee hat eigentlich die erste zentrale Gedenkveranstaltung stattgefunden, abseits von jener in Oslo.

FG: Es sind dann ja auch Überlebende von der Insel direkt zu euch aufs Festival gekommen. Wie seid ihr damit umgegangen?

AB: Also, wenn ich ehrlich sein darf, wir als Team sind gar nicht so viel damit umgegangen, sondern, was wir erstmal gemacht haben, war, irgendwie einen physischen Ort zu installieren, also ein Zelt, das sozusagen dann der Ort sein sollte, wo man den Austausch, den Rückzug, aber auch das Gespräch finden kann. Sowohl sozusagen als Person, die gerade betroffen ist, im Schock ist, aber natürlich auch aus der Idee heraus, dass es nochmal so einen Ort geben muss, wo Menschen aufgefangen werden, die jetzt gerade auch tatsächlich kommen. Und ich muss auch ehrlich sagen, ich weiß gar nicht, wie freiwillig alle Leute kamen, die als Überlebende gekommen sind, weil ich kann mich an einen Genossen erinnern, der, aus einem afrikanischen Land ist, und der beispielsweise da war als Überlebender, und wenn wir uns angucken, wie die Grenzpolitik funktioniert und die Visaregelungen für afrikanische Genoss*innen, dann sind die nicht einmal in einer Situation wie dieser eigentlich frei, ihre Reiserouten einfach so zu verändern. Also der Genosse hätte früher oder später irgendwie in Österreich landen müssen, weil das ist das, was er bei der Botschaft angegeben hat. So hat er das auf jeden Fall damals erzählt, ich kann das jetzt nicht verifizieren, dass das so ist, aber ich kann mir das schon sehr gut vorstellen. Also wie sind wir damit umgegangen, dass da Überlebende da waren? Ich kann es nicht wirklich beantworten, weil für die Überlebenden selbst war ja das persönliche Aufgefangenwerden sozusagen das Relevante. Und die Möglichkeit, Orte der Ruhe irgendwie zu haben, und das war mein organisatorischer Beitrag. Und eine Sache fällt mir gerade noch ein, und zwar war es ja so, dass Breivik eine Polizeiuniform anhatte. Und das war ein Riesendisput, den wir hatten mit dem Innenministerium. Das Innenministerium kam halt und ist überall mit den Bombenhunden herumgelaufen und wollte das Festival zu einem Sicherheitstrakt machen –während wir gleichzeitig einen Freiraum schaffen wollten, aber gleichzeitig jauch einen Ort schaffen wollten, wo auf keinen Fall Polizisten rumlaufen. Wenn gerade da traumatisierte Menschen rumlaufen, die gerade von einem Polizisten – also von einem verkleideten Polizisten – angeschossen wurden. Und das war auf jeden Fall etwas, um das wir uns sehr stark kümmern mussten, dass wir Absprachen treffen mit der Polizei, dass sie nicht in ihren vollen Montur ankommen. Die waren da wirklich extrem kooperativ, und sind in Jeans rumgelaufen, und haben auch vor Ort sehr wenig Präsenz gezeigt, sondern haben das mit den Hunden gemacht, aber nicht einen Ausnahmezustand hergestellt. Das haben sie nicht gemacht, und das war sehr gut, dass sie das nicht so gemacht haben.

FG: Du hast vorhin schon angedeutet, dass auch der Bundeskanzler anwesend war bei der Gedenkfeier oder auch aus Deutschland Sigmar Gabriel, also das Interesse der Politik war relativ groß, das Innenministerium hat sich sehr kooperativ gezeigt – wie war denn allgemein auch das öffentliche Interesse am Festival? Waren Medien anwesend?

AB: Es war dann natürlich riesig. Die haben uns die Bude eingelaufen, das muss man auch so sagen, und das war natürlich auch pietätlos. Wir wissen alle, wie der Boulevard funktioniert, und nicht nur der Boulevard, die kamen dann natürlich an wie die Hyänen, und wollten die Überlebenden von der Insel finden und mit denen irgendwie eine Titelseite machen. Also auch das war was, dass uns sehr viel Energie gekostet hat. Den Begriff Safe Space Festival mit Leben zu füllen, weil wir die Leute auch schützen wollten vor dieser Pressearbeit. Und ich glaube, viele Leute haben das noch sehr präsent, weil wir waren ja damals zum Glück noch nicht so geübt drin, also in Deutschland und Österreich. Es gibt Länder mit anderen Traditionen, wir waren nicht sehr geübt darin, uns Gedanken zu machen, mit den richtigen Antworten und der richtigen Sprache, was passiert wenn so Terrorattentate passieren. Und Jens Stoltenberg hat ja damals diesen total berühmten Satz gesagt, dass die Antwort auf Gewalt immer nur mehr Demokratie und Menschlichkeit sein kann. Und mit diesem Satz kam er auch nach Österreich. Aber er hat damals ja nicht nur das gesagt hat, sondern, auch noch diesen Nachsatz gemacht – „und auf keinen Fall ist es Naivität“. Und das ist verbunden mit einem Handlungsauftrag, gerade an die politische Linke. Ein Rechtsterrorist läuft rein in eine Menge junger Menschen, und erschießt sie, weil sie Frauen sind, weil sie Linke sind, weil sie sich stark machen für eine vielfältige Gesellschaft. Und sich das anzugucken und es erstzunehmen. Den Rechtsruck ernst zu nehmen und ernstzunehmen, dass der Attentäter Beate Zschäpe Briefe schreibt. Der Handlungsauftrag von Jens Stoltenberg bedeutet im Angesicht solch einer Bedrohung nicht in Ohnmacht zu verfallen sondern ein lautes „Nein!“. Die Organisierung nicht nur gegen den Rechtsruck, sondern für eine Welt der Freien und Gleichen, das hat Stoltenberg einfach so mit einem Satz geschafft. Direkt nach dem Attentat. Das imponiert mir bis heute. Ich glaub auch deshalb war das nochmal in einem besonderen Maße von medialem Interesse damals, weil ihm das gelungen ist, wie es nur wenigen Menschen davor und danach gelungen.

FG: Für den Kontext nochmal: Anders Breivik hatte Kontakt mit Zschäpe, Beate Zschäpe, sie hatten einen Briefwechsel. Zur Gedenkfeier, die ihr organisiert habt: Vielleicht kannst du dazu nochmal ein paar Sätze sagen, wie die aussah, was euch da wichtig war, worauf ihr da den Fokus legen wolltet?

AB: Die Gedenkfeier war so organisiert, dass in dem Hauptplatz des Campinggeländes eine Bühne stand, eine ganz kleine Bühne mit einem kleinen Dach, und es war alles total unaufgeregt vom Setting her. Und wir haben mit der Unterstützung von der Bundespartei der SPÖ in sehr kurzer Zeit ein kleines Transparent drucken können und Kerzen organisieren können, also so kleine Lichter, die man in der Hand halten kann. Dann haben wir einfach massig Kerzen organisiert und unseren tollen Genossen Gigs, der mit uns normalerweise am Lagerfeuer sitzt und Arbeiter*innenlieder singt, hat auf dieser Bühne gesungen, und wir haben gemeinsam gesungen, und wir haben gemeinsam diese Kerzen gehalten. Es hat auch zu regnen begonnen, und es gab Redebeiträge von den drei benannten Gästen, Stoltenberg, Gabriel, Faymann. An weitere kann ich mich jetzt ehrlich gesagt gar nicht erinnern, höchstwahrscheinlich der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend, damals Wolfgang Moitzi. wahrscheinlich der Generalsekretär von IUSY damals, Johan Hassel. Ich kann mich, gar nicht mehr so genau erinnern, weil ich hab von der Feier ganz wenig mitbekommen, weil ich damit beschäftigt war, die Kerzen zu verteilen und die Leute vom Eingang abzuholen, dort hinzubringen.

FG: Wann genau hatte die Gedenkfeier denn stattgefunden?

AB: Das müsste ich nochmal nachgucken. Das ist alles so blowy. Am 22. war das Attentat. Also es war am ersten Tag des Festivals. Es war nicht am nächsten Tag. Ich glaube es war am über-übernächsten Tag. Also drei Tage später.

FG: Nach dem Ende des Festivals und als sich das etwas gelegt hatte, ist der Anschlag dann noch präsent? Hat der Anschlag eure Arbeit geprägt, also deine politische Arbeit geprägt, bei der SJÖ oder auch bei IUSY?

AB: Also meine persönliche Arbeit hat das extrem geprägt, weil ich eigentlich vorher so das Thema der extremen Rechten gar nicht so krass am Schirm hatte. Und ich war, genauso wie viele andere, von denen ich das weiß, eigentlich noch ganz schön lang, ja, ich kenne mich nicht so aus, mit so Begriffen, aber ich glaube, es war einfach ein Trauma. Und viele von uns konnten sich sehr lange nicht damit auseinandersetzen, was da passiert ist, warum es passiert ist, wer das war, und warum er das gemacht hat. Viele konnten sich nur sehr oberflächlich mit diesen Fragen auseinandersetzen.

„Die Genoss*innen der AUF sind mit der Botschaft ‚Uns kriegt man nicht klein‘ nach außen gegangen“

Anna Bruckner

Wir haben immer so nach Norwegen geguckt, zur AUF, und waren immer total: „Wie machen die das?“. Weil eine Sache, die damals sehr imposant war, war, dass die Genoss*innen, oder einige von denen, extrem stark nach außen gegangen sind, mit der Botschaft: „Uns kriegt man nicht klein“, und „Wir arbeiten weiter“, und viele Interviews gegeben haben. In meinem Umfeld war das gar nicht so, und viele haben viele Jahre gebraucht, bis sie da wirklich mitgearbeitet haben. Und ich glaube Breivik ist mit dem Blick auf die Militarisierung und die Radikalisierung der extremen Rechten ein Schnitt, der in einer Kontinuität steht, aber der sich in der Kontinuität auch weiterentwickelt hat. Und wenn wir uns den NSU beispielsweise angucken, dann hat sich hundertprozentig der Blick sehr stark geschärft für den ganzen Mist, der rund um Einzeltäterthesen immer wieder aufs Neue von politisch Verantwortlichen, vom Staat auf diese sich immer radikalisierendere radikale Rechte gelenkt wird. Für IUSY oder für die europäische und internationale sozialistische und sozialdemokratische Jugend hat sich kurzfristig in meinem persönlichen Blick einiges verändert. Man wusste nochmal stärker, dass Politik kein Kindergarten ist, und dass es nicht nur um harte Debatten gehen muss sondern dass tatsächlich, beispielsweise im Fall von Breivik der Hass auf Frauen so groß sein kann, dass er deswegen auch Frauen ermorden will. Und dass diese Arbeit nochmal viel wichtiger ist als man im Alltag, mit diesem Tagesgeschäft, mit so von Sitzung zu Sitzung und von Seminar zu Seminar gewusst hat. Aber ich muss gleichzeitig sagen, dass es mich manchmal auch überrascht hat, wie wenig es verändert hat. Ich kann mich sehr gut erinnern, ich habe da mit einem Genossen mal sehr lange drüber gesprochen, als er so meinte: „Vor zwei Jahren war ein Putsch in meinem Land. Ich hab mich versteckt in einem Wald“. Er hat sich versteckt, weil ein Putsch war und die Leute fliehen mussten. Ich glaube, die Lebensrealitäten von manchen Genossinnen und Genossen von uns, die sind unvorstellbar krass, dass, dieses Attentat von Breivik natürlich ultra schlimm für sie war, aber deren Alltag so krass ist, dass es nicht die Zäsur ist. Weil die Verfolgung für deine politische Arbeit für sie in eine ganz anderen Art und Weise Realität ist, als es jetzt für mich ist.

FG: Ich wäre jetzt auch am Ende des Interviews mit meinen Fragen. Ich weiß nicht, ob du noch etwas ergänzen möchtest?

AB: Eine Sache würde ich gerne ergänzen: Ich kann mich erinnern an das IUSY Festival in Malta. Ich glaube, das muss 2014 gewesen sein, also das IUSY Festival nach dem am Attersee. Ich war dort im Organisationsteam, aber nur für die politische Arbeit, weil ich damals bei IUSY Vice President für die Sozialistische Jugend in Österreich war. Und ich kann mich an den ersten Abend erinnern. Ich habe auf den Dance Floor geguckt, und die Leute haben gelacht und getanzt, und ein paar haben auch geknutscht. Ich habe dort eine Riesengruppe an Frauen, an Genossinnen von der AUF gesehen, und sie waren die, die am lautesten gelacht haben, und am verrücktesten getanzt haben. Ich habe sie angeguckt, und ich habe geheult. Diese lachende Frau, die steht für alles, was Breivik hasst. Er hasst starke, mutige, politische, linke Frauen, die emanzipiert sind, die selbständig sind. Er hasst sie, und deswegen hat er sie auch umgebracht, mitunter. Sie standen da, und sie waren alles, was er gehasst hat. Und ich fand es einfach so wunderschön, ich werde es nie vergessen wie die Genossinnen da vor Ort damit umgegangen sind und weitergemacht haben, und diesen Handlungsauftrag so unfassbar für sich mitgenommen haben. Es geht nicht um einen Moment der Trauer geht jedes Jahr, sondern um einen Moment der Trauer und danach wieder viel lauter zu sein. Das finde ich toll. Ich glaube, da kann man viel von lernen.

FG: Ich danke dir für dein Interview, Anna.

Abkürzungen  

ASH: Anton-Schmaus-Haus Einrichtung der SJD – Die Falken Neukölln

AUF: Arbeidernes Ungdomsfylkning – Arbeiter:innen-Jugendliga, norwegischer sozialistischer

Jugendverband   

BK: Bundeskriminalamt (Österreich)

DGB: Deutscher Gewerkschaftsbund  

IUSY: International Union of Socialist Youth – internationaler Dachverband sozialistischer und

sozialdemokratischer (Partei-)Jugendverbände

Jusos: Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in

der SPD  

NSU: Nationalsozialistischer Untergrund

PoC: People of Color

SJD – Die Falken: Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken

SJÖ: Sozialistische Jugend Österreich

SPÖ: Sozialdemokratische Partei Österreichs

YES: Young European Socialists – europäischer Dachverband sozialistischer und sozialdemokratischer (Partei-) Jugendverbände