Janin und Sarah Marino
Sarah: Hallo Janin, schön dass du da bist und mit mir sprechen möchtest. Ich freue mich sehr. Vielleicht gleich zu Beginn eine Kurze Vorstellung? Wie alt bist du und wo sind wir hier!
Janin: Ich heiße Janin und bin 25 Jahre alt und wir sind hier in meiner schönen Heimat in Köpenik.
Sarah: Sehr schön! Es ist auf jeden Fall sehr grün hier und sehr, sehr gutes Wetter. Wir sind heute hier, weil wir über das 10 Jahres Gedenken an die Ereignisse in Oslo und auf Utøya sprechen möchten und über deine Erfahrungen und deinen Werdegang. Es ist zehn Jahre her und natürlich gab es auch ein Leben davor. Ich wollte fragen, wo hast du denn vor zehn Jahren gelebt und wie bist du aufgewachsen?
Janin: Geboren bin ich hier in Berlin. Mein Vater ist Norweger und meine Mutter Deutsche und mein Vater hatte so viel Heimweh, dass wir – als ich zwei Jahre alt war – beschlossen haben, zurück nach Norwegen zu ziehen. Das haben wir dann auch durchgezogen. In Norwegen bin ich dann mit einer tollen Familie und tollen Freunden aufgewachsen. Ich bin dort zur Schule gegangen.
Sarah: Du bist dort zur Schule gegangen und bist irgendwann an die Gruppe AUF geraten. Wie ist das passiert? Wie bist du dort hingekommen?
Janin: Das ist durch meine Freundin Elisabeth passiert, die ich seit dem Kindergarten kannte. Ihre Schwester ist mit 16 dort eingetreten. Ne, mit 15. Das war 2009 und Elisabeth hat sich von der Euphorie mit anstecken lassen. Es war nicht die typische Politik, was wir immer dachten, dass man da nur rumsitzt und zuhört. Es hat Spaß gemacht auf diese Versammlungen zu gehen. Man hat auch viele Freunde dadurch kennengelernt die auch die selben Interessen und Ziele haben. Und Elisabeth hat mich damit angesteckt und so sind wir dazu gekommen.
Sarah: Das klingt auf jeden Fall sehr, sehr spannend und richtig erfreulich für mich als Jusos. Ihr wart dann bei der AUF und seit dort aktiv gewesen und habt dann dort von Utøya gehört. Kannst du beschreiben was das ist? Was organisiert die AUF dort?
Janin: Also die AUF organisiert jedes Jahr ein politisches Sommercamp auf Utøya. Es geht dabei nicht nur über Politik. Klar, es gibt natürlich auch viele Workshops und Versammlungen und bekannte Politiker haben Tagesausflüge auf die Insel gemacht. Aber man saß auch einfach nur zusammen, z.B. mit der Gitarre, hatten Discoabende, Filmabende mit Stockbrot und Grillen. Es war kein typisches politisches Camp, es war eher wie ein Freundescamp. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber es war eine schöne Mischung aus Beidem. Es hat sehr viel Spaß gemacht.
Sarah: Du hast deine Freundin Elisabeth schon ein paar Mal erwähnt. Was macht sie denn aus? Was war sie für ein Mensch?
Janin: Sie war ein sehr freundlicher und liebevoller Mensch. Sie hat sich immer für ihre Familie und Freunde eingesetzt. Wenn ich Liebeskummer hatte oder einen anderen Kummer, konnte ich sie um zwei, drei Uhr nachts anrufen und sie ist rangegangen, sie ist zu mir gefahren. Man kann sie gar nicht richtig beschreiben. Sie war ein sehr wundervoller Mensch.
Sarah: Ihr seit auf Utøya, gemeinsam auf das Sommercamp. Bevor alles seinen Lauf nahm, habt ihr dort schon Tage verbracht. Wie lief denn das Camp ab, was habt ihr dort bisher gemacht?
Janin: Die Tage davor waren sehr sonnig und wir sind sehr oft baden gegangen. Es gab eine kleine Badestelle auf der Insel. Dort sind wir sehr oft hingegangen. Abends gab es Filmabende und Discoabende wo man sich dann einfach zusammen in das Kaffeehaus gesetzt hat, in die große Halle. Dort hatten wir auch Karaokeabend, z.B. den Abend davor. Das war richtig, richtig toll. Es war auch spannen, viele Politiker kennenzulernen. Oder auch die Leiter der Bezirke, die es in Norwegen gibt und auch die vielen Menschen zu treffen, mit denen man die selben Interessen teilt. Wir haben gemeinsam die Insel erkundet. Das waren so die Tage davor.
Sarah: Irgendwann kam dann der Zeitpunkt, der 22. Juli. Bevor es auf Utøya losging, gab es bereits Anschläge in Oslo. Wie habt ihr davon erfahren und wie seit ihr damit umgegangen?
Janin: Als ich davon erfahren habe, war ich in meinem Zelt. Mir ging es schon den ganzen Tag nicht so gut. Ich hatte Magenkrämpfe und mir war schlecht. Elisabeth war bei mir und wir saßen im Zelt. Wir haben am Nachmittag draußen vor dem Zelt aufgeregtes Getuschel gehört. Die Menschen waren nicht mehr so glücklich, wie wir es die Tage davor erlebt hatten. Elisabeth ist dann rausgegangen und wollte nachsehen, was da los ist. Sie kam dann ein paar Minuten später wieder rein und meinte zu mir, dass es in Oslo eine Explosion gegeben hat. Mein erster Gedanke war mein Vater. Er hatte eine Baustelle in Oslo und ich habe mir sehr viele sorgen um ihn gemacht. Ich wollte ihn sofort anrufen. Da Elisabeths Vater Lastwagenfahrer war, also er hat Lieferungen in und um Oslo ausgeführt, wollte sie ihn sicherheitshalber anrufen. Es gab im Camp auch viele, deren Eltern im betroffenen Regierungsviertel gearbeitet haben. Diese entspannte Stimmung, die bis dahin geherrscht hat, war weg. Es gab auch viele Leute, die geweint haben, weil sie sich sorgen um ihre Eltern gemacht haben. Ich habe sofort mein Handy genommen und versucht meinen Vater anzurufen. Elisabeth ist in die Cafeteria gegangen, um ihr Handy dort aufzuladen, damit sie auch ihren Vater anrufen kann. Ich habe meinen Vater zum Glück sofort erreicht. Er meinte, er habe die Detonation gespürt, er hat es mitbekommen. Er ist jetzt auf dem Weg nach Hause. Ich war dann entspannter, denn ich wusste, meiner Familie war nichts passiert. Ich bin dann aufgestanden und bin in die Cafeteria zu Elisabeth. Bei ihr war zum Glück auch alles in Ordnung. Sie hat mir dann so einen Daumen Hoch gezeigt. Da war ich sehr erleichtert, dass bei uns alles in Ordnung war.
Sarah: Später am Tag, kurz vor 17 Uhr, erreicht der Attentäter von Oslo mit seinem Lieferwagen die Anlegestelle der Fähre vor der Insel Utøya. Von diesem Zeit an vergehen etwa zwei Stunden bis zum Eintreffen der Polizei und Rettungskräfte. Wie hast du diese zwei Stunden überlebt, bzw. was ist vorgefallen?
Janin: Ich stand immer noch vor der Cafeteria, als ich die ersten Schüsse gehört habe. Ich habe es erst gar nicht als Schüsse wahrgenommen und wusste auch gar nicht, wie sowas klingt. Ich dachte, dass es ein Feuerwerk ist. Dass da irgendjemand mit China Krachern vor sich hin experimentiert. Im ersten Moment war ich sauer, weil ich mir dachte, hier sind Leute, die machen sich sorgen um ihre Eltern und irgendeiner meint jetzt hier Party machen zu wollen. Dann haben Leute draußen geschrien und ich bin in die kleine Halle zurück und wollte nachsehen, wo diese Geräusche herkommen. Dann habe ich auf dem Zeltplatz einen Polizisten gesehen. Für mich sah er aus, wie ein Polizist. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass er keiner war. Ich habe zu dem Zeitpunkt nichts gesehen, das darauf hingedeutet hätte, dass er keiner war. Er hatte ein Gewehr und eine Pistole und hat auf etwas oder jemanden gezielt. Ich weiß es nicht genau. Er hat geschossen. Die Leute sind in das Gebäude reingerannt. Eine Freundin von Elisabeth und mir, Leyla, ist rausgegangen und zu ihm. So wie ich Leyla kenne, hat sie versucht ihn zu stoppen. Sie hatte einen sehr, sehr starken Gerechtigkeitssinn. Gewalt war für sie immer die letzte Lösung. Sie hat ihn angesprochen. Was sie genau gesagt hat, habe ich erst im Nachhinein erfahren. Sie soll wohl gesagt haben: Stopp! Nicht schießen. Er hat ihr dann einfach in den Kopf geschossen. Sie ist umgefallen und ich hab erstmal gar nicht realisiert, was ich gesehen habe und was passiert. Ich bin instinktiv zur Tür gerannt, welche die große von der kleinen Halle trennt. Ich stand dann da erstmal im Schock bis er auch rein gekommen ist. Er hat einfach wahllos auf alle Leute geschossen, die in dieser kleinen Halle waren. Der Boden um mich herum, war komplett rot. Alles voller Blut, auch die Wände waren voller Blut. Ich bin dann in die große Halle gerannt. Elisabeth hat mich nur noch angesehen: Hä? Was passiert hier? Ich hab ihr nur noch zugeschrien: Lauf! Wir müssen hier raus, lauf jetzt einfach. Sie war völlig in Trance. Sie hatte immer noch das Handy in der Hand. Sie hatte immer noch mit ihrem Vater telefoniert und wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen, was da gerade passiert. Sie ist dann plötzlich vom Fenster in eine Ecke gesprungen. Man denkt wenn man sich möglichst klein macht, dann ist man nicht zu sehen. Das war wahrscheinlich ihr Gedanke. Er kam dann in die große Halle rein und hat auf die Menschen in der Ecke geschossen. Ein Mädchen vor mir wurde getroffen. Sie hat sich noch versucht irgendwo fest zu halten, aber ich bin aus Instinkt zurückgewichen, weil ich nicht mitgerissen werden wollte. Irgendjemand hat mich am Handgelenk gepackt und mich durch die Halle gezogen. Menschen sind aus den Fenstern gesprungen und haben Verletzungen in Kauf genommen. Sie wollten nur noch raus. Die Toiletten waren voll mit Menschen, die sich dort versteckt hielten. Ich bin dann durch den Gang und habe noch einmal zurückgeschaut und habe Elisabeth am Boden liegen sehen. Ich dachte dann, ok, sie stellt sich tot. Schlau war sie eigentlich schon immer und ich bin dann einfach nur noch gerannt. Auf dem Zeltplatz habe ich mich umgeschaut. Es lagen auf dem Zeltplatz tote Menschen. Ich bin über Leichen hinweg gestiegen und hab noch überlegt, ob ich ins Zelt zurückrenne um mein Handy zu holen. Aber dann war der Täter auch schon draußen und ich habe den Gedanken verworfen. Ich hatte nur noch diesen Fluchtinstinkt. Ich wollte nur noch weg und bin dann immer weiter gerannt. Ich habe neben mir ständig so ein pfeifen gehört und wusste er schießt gerade auf mich. Ich hab dann immer versucht mich zu ducken, immer zu springen und immer im Zick- Zack zu laufen, damit er nie wusste, wo sich mein Kopf gerade befand. Kurz bevor ich den Wald erreichte, habe ich so eine Art Explosion in meinem Körper gespürt. Ich konnte plötzlich gar nicht mehr Atmen, kaum mehr Atmen. Es viel mir sehr, sehr schwer. Ich habe richtig geröchelt, bin aber weitergelaufen, weil ich so einen Adrenalinpegel hatte. Irgendwann kam ich an einen Pfad. Dort lagen mehrere Menschen. Ich weiß gar nicht, zwölf, dreizehn bestimmt. Ich wollte mich aber nicht zu ihnen legen, weil ich Menschenmassen vermeiden wollte. Ich wusste er schießt auf Menschenmassen und ich sollte jetzt lieber alleine irgendwo hingehen – dann habe ich die größten Chancen zu überleben. Ich bin dann diesen Pfad lang gerannt, aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Meine Lunge hat komplett schlapp gemacht. Ich habe mich hingesetzt und habe versucht Luft zu holen. Die ganze Zeit im Hintergrund hat man Schüsse und Schreie gehört. Man hat Menschen gehört, die ihn angebettelt haben, nicht zu schießen und sie leben zu lassen. Ich habe versucht das Ganze auszublenden. Irgendwann kam eine Gruppe an mir vorbeigerannt. Ein Mädchen ist stehen geblieben und hat mich gefragt, ob ich Hilfe brauche. Ich habe ihr dann nur noch gesagt: Lauf! Renn! Lass mich liegen! Renn! Ich wollte nicht, dass irgendeiner sein Leben für mich aufs Spiel setzt. Vor allem auch nicht eine Person, die ich überhaupt nicht kenne. Das wäre in meinem Kopf einfach nur Wahnsinn gewesen, in so einer Situation. Aber sie hat dann gesagt, nein, ich bleibe jetzt hier. Du bleibst nicht allein liegen. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich nicht mehr hoch komme und dass ich nicht mehr laufen können, weil ich anscheinend irgendwo getroffen wurden. Sie hat auch gesagt, ja, du blutest. Dann lagen wir einfach da und haben versucht und etwas abzulenken. Wir haben uns von unseren Familien erzählt. Was wir vor haben, wenn wir wieder nach Hause kommen. Dann waren die Schüsse ganz nah. Wir haben gedacht: Was machen wir jetzt? Ich kann nicht laufen und ich habe sie angebettelt, steh jetzt auf und geh weg. Lass mich hier liegen; ich komme schon irgendwie zurecht. Versteck dich! Sie wollte partout nicht gehen. Wir kamen dann auf die Idee; das einzige was uns einfallen würde, wäre, uns Tot zu stellen. Also haben wir das Blut von meiner Wunde genommen und haben es auf unsere Köpfe geschmiert, unsere Schulter, überall. Wir haben uns dann flach hingelegt, in der Hoffnung, dass es so aussieht, als ob wir tot wären. Wir haben dann die Augen geschlossen. Ich habe versucht, sehr flach zu atmen. Mir viel das überhaupt nicht leicht, weil meine Lunge zu stark verletzt war. Wir haben dann Schritte gehört und mein erster Gedanke war einfach: Jetzt kommt er. Jetzt sterbe ich. Jetzt ist es vorbei. Und ich habe an meine Eltern gedacht. Ich war wütend auf mich selber, dass ich nicht doch noch zurückgegangen bin, um mein Handy doch noch zu holen. So hätte ich mich wenigstens verabschieden können. Jetzt hatte ich die Chance nicht mehr. Irgendwer stand dann über uns und hat sehr ruhig geatmet. Er hat kein Wort gesagt. Er hat einfach nur geatmet. Ich habe Augen nicht aufgemacht. Ich hab ganz kurz mal geblinzelt und hab halt diese schwarzen Stiefel vor mir gesehen. Ich wusste, dass ist er. Dann hat’s zweimal laut geknallt. Er hat zweimal geschossen und ich habe das Mädchen neben mir zucken gespürt. Als wenn so ein Stromschlag einmal durch ihren Körper geht. So stelle ich mir das vor. Sie hat gezuckt und im nächsten Moment war ihr Arm – also unser Hände haben sich so ein bisschen berührt – sie wurde ganz schlaff. Dann gab es noch einen Schuss und ich hatte ein komplettes Fiepen im Kopf. Ich habe richtig unkontrolliert gezuckt. Ich habe damit gerechnet, dass jetzt noch einer kommt und ich tot bin. Ich weiß nicht, ob noch einer kam. Ich habe es nicht mehr gehört, weil ich nur noch so ein rauschen in meinen Ohren hatte. Irgendwann war es komplett still. Ich habe versucht meine Augen auf zu machen. Ich habe total verschwommen gesehen, alles war komplett weiß. Ich habe auf meinem Gesicht überall Blut gespürt. Das erste, was ich dachte: Bin ich jetzt in den Kopf geschossen worden? Warum lebe ich jetzt noch? Leute, denen in den Kopf geschossen wird, sterben. Die überleben normalerweise nicht. Die Schüsse haben weiter weg wieder angefangen. Ich habe versucht mich ein wenig umzudrehen und das Mädchen anzugucken. Sie war tot. Das wusste ich. Das war ein Anblick, der verfolgt einen bis heute. Das kann man nicht vergessen. Ich habe auch schnell wieder weggeguckt. Ich habe noch versucht, ihre Hand ein bisschen zu drücken. Sie war noch warm. Ich habe versucht mich ein bisschen an ihr zu wärmen, weil mir kalt war. Es hat geregnet und es war matschig. Dann hat ein Handy geklingelt. Ich wusste, dass es in der Hosentasche des Mädchens war. Ich wollte auch erst rangehen, aber ich dachte das kann ich nicht sagen. Das kann ich nicht bringen. Ich lag dann einfach nur still da und habe mich einfach gefragt, wo die Hilfe bleibt und wo die Rettungskräfte bleiben. Über uns war ein Hubschrauber und auf dem Wasser habe ich Boote gehört. Die Schreibe und die Schüsse waren immer noch präsent. Diese zwei Stunden haben sich nicht wie zwei Stunden angefühlt. Das hat sich wie zwei Tage angefühlt. Es war unendlich lang. Ich hatte auch gar kein Zeitgefühl mehr. Ich wusste auch gar nicht mehr, wie lange ich dort lag. Ich habe auch einfach nur noch darauf gewartet, dass der Tot endlich eintritt. Ich wollte den Schmerz nicht mehr haben. Diese Geräusche im Hintergrund, ich wollte das alles einfach nicht mehr haben. Ich habe dann gesagt: 15 Jahre, eigentlich hast du schon viel erlebt. Vielleicht soll es einfach so sein. Und ich habe mich dann darauf eingestellt, zu sterben. Irgendwann habe ich ganz viele Schritte gehört. Und ich dachte ok, er hat sich daran erinnert, dass ich noch lebe und kommt zurück und erschießt mich jetzt. Irgendjemand hat mich an meinem Hals angefasst und an meinen Armen. Wahrscheinlich um meinen Puls zu fühlen. Dann habe ich noch gehört, wie jemand geschrieben hat: Hier lebt jemand! Das nächste, woran ich mich erinnere – also ich gehe davon aus, dass ich zwischendurch immer wieder bewusstlos war, ich weiß es nicht, ist, dass ich in einem Boot lag. Jedes mal, wenn man über eine Welle gefahren ist oder eine Welle gegen das Boot geschwappt ist, hatte ich so starke Schmerzen. Über mir saß ein Polizist, mit einer Waffe. Ich habe ihn angeguckt und habe gesagt: Bitte nicht schießen. Nicht schießen. Und er hat gesagt: Ich schieße nicht. Hat die Waffe genommen und hat sie weggelegt. Und da wusste ich dann, ok, die Rettung ist endlich da. Ich habe eine Chance doch zu überleben. Ich habe auch an meine Eltern gedacht und mich gefragt, ob sie denn schon wussten, was passiert war? Ob sie auf dem Weg sind? An Land habe ich dann nur noch ganz viele weinende und schreiende Menschen gehört. Viele haben geschrien, der und der ist Tot und wo ist meine Mama? Es war ganz, ganz furchtbar. Ich wurde dann in einen Krankenwagen gebracht. Dort auch sofort an alle möglichen Geräte angeschlossen. Das letzte, was ich noch weiß, ist, dass eine Ärztin wohl gesagt hat: wir brauchen einen Helikopter, sonst verlieren wir sie. Das nächste woran ich mich erinnern kann ist, dass ich im Krankenhaus wach geworden bin.
Sarah: Das ist richtig krass, was du erlebt hast. Vor allem schon mit 15 Jahren. Das ist auch nochmal besonders traumatisch. Ich stelle mir die Frage, der Täter war als Polizist getarnt und ist so überhaupt erst auf die Insel gekommen. Polizisten bzw. auch generell Rettungskräfte genießen auch ein besonderes Vertrauen in einer Gesellschaft und sind auch die Institutionen und Personen die man auch anruft, wenn man sich bedroht fühlt oder Hilfe braucht. Hat sich denn durch die Tatsache, dass der Täter als Polizist getarnt war dein Sicherheitsgefühl geändert? Bzw. dein Verhältnis zur Polizei.
Janin: Ich hatte gar kein Gefühl mehr der Sicherheit. Ich habe niemanden mehr getraut. Weder Freunden noch Polizei. Sobald ich einen Polizisten gesehen habe, gingen bei mir die Alarmglocken an. Ich wurde panisch. Ich habe gesagt: Bring ihn raus, bring ihn raus. Ich will ihn nicht sehen. Das Problem war halt auch, dass Polizisten auch das Krankenhaus bewacht haben, in dem ich lag. Es lagen ja auch noch viele anderen Überlebenden dort. Die Presse hat sich natürlich, wie sonst was auf die Überlebenden gestürzt um die Besten Schlagzeilen zu bekommen. Deswegen wurde Verstärkung gerufen. Den einzigen Menschen, denen ich danach noch getraut habe, waren meine Eltern. Ich wollte niemanden sehen und wollte niemanden außer ihnen in meiner Nähe haben. Ich habe mich nur noch bei ihnen geschützt gefühlt. Mein Vertrauen war komplett weg. Es hat Jahre gedauert, bis ich mir sagen konnte: es war ein Einzelfall. Er war als Polizist verkleidet und die richtige Polizei hat dich da runter geholt und hat dir geholfen. Es hat Jahre gebraucht, bis ich da wieder Vertrauen gefasst habe.
Sarah: Du hast schon beschrieben, dass du von Rettungskräften geborgen wurdest und in ein Krankenhaus gebracht wurdest. Das war vermutlich nach Oslo, richtig? Wie hast du die Zeit danach erlebt? Wie war denn dein Weg zur Genesung und zurück ins Leben?
Janin: Genau, ich war in Oslo im Krankenhaus. Erstmal hatte ich eine überlebenswichtige Operation, sodass ich alleine wieder atmen konnte. Mir wurden mehrere Kugelfragmente aus dem Körper herausgeholt. Auch am Kopf wurde ein Fragment entfernt. Als erstes musste ich viel liegen. Nach etwa einer Woche durfte ich unter Anleitung eines Arztes wieder anfangen zu laufen. Ich war sehr wackelig und musste das laufen erst wieder neu erlernen. Ich hatte dafür eine Stütze. Ich hatte bereits im Krankenhaus sehr gute psychologische Hilfe und habe versucht das ganze zu verarbeiten und zu verstehen. Ich muss natürlich auch damit klarkommen; ich habe dann auch gefragt, wo Elisabeth ist. Weil, das war mein erster Gedanke als ich wach wurde: wo ist Elisabeth? Ich habe meinen Vater angeguckt und er musste es nichtmal sagen und ich wusste, sie ist tot. Das musste ich erstmal realisieren, dass man eine Person mit der man sein halbes Leben lang zusammen war, dass sie nicht mehr da ist. Das war sehr schwer zu akzeptieren. Ich habe ihr täglich SMS geschrieben und habe durchgehend über sie gesprochen. Meine Verletzungen waren mir egal. Das habe ich mit Hilfe einer Psychologin vor Ort aufarbeiten können. Zum Glück.
Sarah: Du hast bereits beschrieben, dass es dir sehr wichtig war zu erfahren was passiert ist. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der auch viele Betroffen immer wieder umtreibt: die Aufarbeitung solcher Geschehnisse. Wie hast du denn das wahrgenommen, wie das einerseits öffentlich von der Berichterstattung her, aber auch politisch und gesellschaftlich damit umgegangen wurde. Wie war das aus deiner Sicht?
Janin: Ich habe versucht, ehrlich gesagt, nicht groß Berichte zu sehen und Zeitung zu lesen. Ich habe mir von meinen Eltern alles erklären lassen. Ich wusste jede Zeitung fotografiert ihn, lichtet ihn ab und zeigte den Täter. Ich wollte ihn einfach nicht sehen. Ich wusste dennoch alles, mein Vater hat mir alles erzählt. Ich wollte ihn einfach nicht sehen. Klar, man kam irgendwann nicht mehr drum herum. Irgendwann habe ich einen Bericht über ihn gesehen und habe seinen Gesicht gesehen und dachte mir: Das ist der Mann, der uns das alles angetan hat? Ich finde es jetzt im Nachhinein schade, dass der Fokus eher auf dem Täter liegt. Klar, dass ist immer normal. Aber ich finde man sollte so jemandem keine Beachtung schenken. Beachtung hatte er genug gehabt und irgendwann ist genug. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber ich finde es schade oder doof, dass die komplette Aufmerksamkeit auf ihm lag.
Sarah: Das ist auf jeden Nachvollziehbar und es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit selbst reflektiert, wie sie damit umgeht. Du würdest dir also mehr Aufmerksamkeit für euch als Betroffene wünschen? Wie würdest du zehn Jahre danach auswerten? Wie nimmst du das Gedenken in Norwegen wahr? Ist es nach wie vor Täterorientiert oder hat sich daran etwas geändert.
Janin: Dem Täter wird in Norwegen so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Das finde ich gut. Er wird auch nicht beim Namen genannt, sondern nur „der Täter“. Der Fokus liegt sehr auf der Erinnerung der Opfer. Es gibt viele Gedenkstätten. Das finde ich besser. Die Opfer sind die Menschen an die man erinnern sollte und die Überlebenden sind diejenigen denen man helfen sollte. Der Täter hat für mich gar keine Bedeutung mehr.
Sarah: Ich finde es total wichtig, auch von Betroffenen zu erfahren was ein würdiges Gedenken ist. Wie sollte eine Gesellschaft solche schrecklichen Ereignisse aufarbeiten?
Janin: Ich finde, am wichtigsten ist es, den Opfern zu gedenken, den Toten, sie auch namentlich zu erwähnen und ihre Geschichte zu erzählen. Was sie gemacht haben, was ihnen wichtig war und wofür sie in der AUF gekämpft haben. Und ich finde es auch wichtig, dass wir Überlebende mit eingebunden werden. Wir haben halt Sachen erlebt, die kein Mensch erleben sollte, die ich auch persönlich nicht mal meinen schlimmsten Feinden wünschen würde. Und was viele nicht denken ist, ich höre es ja selber immer wieder auch von von Familie. Es ist jetzt schon so lange her. Komm doch mal drüber hinweg. Man muss auch weiterleben und das ist nicht so einfach, weil ich habe Leute sterben sehen. Ich habe meine beste Freundin sterben sehen und das kann man nicht einfach so vergessen. Und das sind Sachen, die sich in das Gehirn eingebrannt haben. Das verstehen viele nicht oder das realisieren viele nicht. Vor allem die, die nicht betroffen waren. Die denken dann, es geht doch irgendwann weiter. Sie wissen aber nicht, was das mit der Psyche macht. Und wie schon erwähnt, ich finde es auch gut, dass in Norwegen der Täter nicht namentlich genannt wird, dass der Fokus dort auf die Überlebenden und die Opfer fällt. Ganz anders als hier zum Beispiel in Deutschland. Da würde eher die Geschichte des Täters auseinandergenommen. Ja, das ist es mir persönlich am wichtigsten beim Gedenken.
Sarah: Es gab ja ziemlich zügig nach den Taten in Norwegen einen Prozess gegen den Täter und ein Urteil. Wie ist denn aus deiner Sicht der Prozess verlaufen und und wie ging es dir vor allem am Tag des Urteilsspruch? Wie hast du den wahrgenommen?
Janin: Also ich finde der Prozess ist so gelaufen, wie wir es uns gewünscht haben. Er wurde als zurechnungsfähig eingestuft und ist dadurch lebenslang hinter Gittern. In Norwegen ist 21 Jahre mit anschließender Sicherheitsverwahrung die Höchststrafe. Wir wissen, dass er nicht mehr rauskommt und das war uns am wichtigsten. Wenn er jetzt als nicht zurechnungsfähig eingestuft wordenwöre, vielleicht wäre er dann nur in eine Psychiatrie gekommen und dann nach ein paar Jahren raus. Wir wissen es nicht, aber ich finde es gut, dass es so gekommen ist und dass er auch nicht so viel Zeit hatte, seine verrückten Ideologien zu verbreiten. Und auch die Reaktionen der Besucher und generell der Presse auch für uns am Tag des Urteilsspruch. Ich war einfach nur noch erleichtert. Also für mich hat es sich so angefühlt, als wäre ein Kapitel abgeschlossen und ich kann jetzt versuchen, mich ganz auf meine Gesundheit zu konzentrieren. Darauf, dass ich wieder komplett zurück ins Leben finde.
Sarah: Der Täter hat ja, wie du schon bereits erwähnt hast, eben nicht aus Irrationalität gehandelt, sondern hatte seine Ziele und verfolgte eine Ideologie. Die wurde nicht mit ihm eingesperrt, sondern ist nach wie vor sehr präsent. Vor allem hier in Deutschland. Gibt es Dinge, die dir nach dem Urteilsspruch noch fehlen? Oder würdest du sagen, da muss noch mehr passieren? Das soetwas nicht mehr passiert?
Janin: Ich finde es muss definitiv noch mehr passieren. Vor allem das potenzielle Gefährder stärker beobachtet werden. Was tun sie? Was könnten sie planen? Ich weiß ja nicht, wie bei der Kriminalpolizei oder den Leuten, die halt auch dafür verantwortlich sind abläuft. Aber das hat mir ein bisschen gefehlt. Oslo hätte definitiv verhindert werden können. Es sind viel zu viele Menschen gestorben, nicht nur in Norwegen, sondern überall auf der ganzen Welt. Da muss einfach schärfer vorgegangen werden.
Sarah: Ja, so etwas Ähnliches hat der damalige Regierungschef Jens Stoltenberg auch gesagt, der eingeräumt hat, dass Fehler passiert sind. Auch in den Behörden im Vorhinein. Wie hast du dann ihn als Politiker wahrgenommen? Auch als Betroffener? Ihm galten ja auch die Anschläge im Regierungsviertel. Wie ist er dann damit umgegangen?
Janin: Ich finde, dass er sehr gut damit umgegangen ist. Es gehört natürlich auch eine ganze Menge Mut und Stärke dazu, vor einem ganzen Land einzuräumen, dass es Fehler gegeben hat. Sich das einzugestehen und das auch zuzugeben. Und ich persönlich habe ihn als sehr engagierten Menschen kennengelernt. Man hat ihm diese Betroffenheit auch angemerkt. Es ist nicht, wie ich sonst immer sehe oder höre, dass die Politiker das einfach nur für die Presse machen. Wenn ich daran denke, ist ein blödes Beispiel. Aber da kommt mir irgendwie in den Sinn, wie Frau Merkel nach den Anschlägen oder nach dem Anschlag am Breitscheidplatz einen Tag später lächelnd mit einem Glühwein dort saß. Das ist der falsche Umgang, finde ich. Er hat es schon richtig gemacht. Er war sehr betroffen. Es war auch ehrlich gemeint.
Sarah: Auch hier in Berlin mehren sich zum zehnten Mal rechtsterroristische Anschläge, vor allem in Neukölln. Und hier klagen Betroffene vor allem über die mangelnde Aufklärung, über das mangelnde Eingeständnis, dass es eben keine Einzelfälle waren. Mich würde interessieren, ob du das auch verfolgst, wie in Berlin damit anders umgegangen wird oder ob du eher keine Verbindungslinien siehst. Es sind ja durchaus sehr ähnliche Ideologien, die die Täter an den verschiedenen Orten haben.
Janin: Ich versuch das nicht so sehr an mich ran zu lassen. Es tut mir nicht gut, wenn ich ständig darüber nachdenke, was woanders passiert ist. Es klingt nicht nett aber es ist auch eine Art Selbstschutz, dass man sich darüber auch nicht wirklich informiert. Man kriegt so viele Sachen mit, die auch sehr groß in den Medien aufgebauscht werden. Aber ich versuche das möglichst nicht an mich heran zu lassen. Ich habe jetzt nur mitbekommen, dass zum Beispiel am Breitscheidplatz viele Angehörige geklagt haben, weil dort mit den Hinterbliebenen nicht so umgegangen wurde, wie sie es sich gewünscht hätten. Mehr versuche ich nicht an mich ran zu lassen.
Sarah: Wie haben sich deine Erfahrungen der letzten zehn Jahre auch auf dein politisches Engagement ausgewirkt? Bist du nach wie vor aktiv beziehungsweise machst du weiter?
Janin: Ich habe mich danach von der Politik erst mal abgewandt, weil ich mit mir selber zu tun und ich Angst hatte. Ich wollte nicht noch mal zum Ziel werden. Und klar, mich interessiert immer noch, was in der Politik los ist. Ich lese auch viel darüber. Ich informiere mich. Ich versuche auch wieder ein bisschen da reinzukommen, auch wenn es mir schwerfällt. Einfach weil die Angst auch nach zehn Jahren immer noch präsent ist. Und ich versuche es jetzt erst mal als Wahlhelfer in meinem Bezirk und hoffe, dass ich dadurch dann wieder ein bisschen mehr einen Schritt in die Politik wagen kann. Ich finde es schon wichtig, was zu verändern und sich dafür zu engagieren. Nur wenn man was macht oder versucht zu machen, kann man auch etwas verändern. Auch was Rassismus angeht.
Sarah: Wir haben vorhin kurz darüber gesprochen, aber ich finde es auch total spannend und vor allem auch für deinen persönlichen Werdegang. Du wurdest mit deinen 15 Jahren völlig aus der Bahn geworfen und das ist auch ein Alter, in dem man anfängt sich zu überlegen: Was mache ich später beruflich, schulisch? Was möchte ich werden? Mich würde interessieren, wie das zu dem Zeitpunkt war und wie sich das verändert hat. Was sind jetzt deine Zukunftspläne?
Janin: Ich hatte direkt danach ja die Klasse nochmal wiederholt. Die zehnte Klasse hatte ich noch mal wiederholt, weil ich einen guten Schulabschluss haben wollte, weil ich unbedingt Polizistin werden wollte. Mit meinem derzeitigen Zustand geht das nicht. Meine Noten sind richtig abgestürzt und ich hatte Panikattacken. Ich dachte mir, ich muss daran arbeiten, bevor ich weiter drüber nachdenke. Mir wurde dann allerdings ein Strich durch die Rechnung gezogen. Den Beruf Polizistin kann ich nicht ausüben aufgrund meiner Verletzungen und meiner Psyche. Da bin ich zu vorbelastet. Ich hatte einen schwierigen Start ins Berufsleben, wollte dann erst Rechtsanwalt und Notar Fachangestellte werden. Da bin ich aber auch ganz schnell wieder raus, weil das auch überhaupt nichts für mich war. Und ja, ich hatte auch starke Probleme mich da rein zu finden. Und dann bin ich durch einen Nebenjob auf den Beruf Einzelhandelskauffrau gestoßen und den fand ich ganz ganz toll. Eigentlich, weil es hat mir Spaß gemacht auch mit Menschen zu arbeiten. Und ich hab halt auch gemerkt, dass ich dadurch ein bisschen meine Sozialphobie bekämpfen kann. Dadurch habe ich mich dann dafür entschieden. Ich habe dann auch 2019 meine Ausbildung glücklicherweise gut abschließen können und bin seitdem als Einzelhandelskauffrau tätig. Man lernt viele Leute kennen. Das macht mir Spaß.
Sarah: Das klingt doch gut, dass du etwas gefunden hast, dass dir Spaß macht und du das auch machen kannst. Liebe Janine, wir sind am Ende. Vielen, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast.