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„Solange ihm jemand zuhört, wird er weitersprechen…“

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In diesem Beitrag geht es um die Arbeiter*innenjugend AUF und den Täter des rechtsterroristischen Anschlags auf Utøya, seine Radikalisierung und Ideologie. Dabei wird sein Name genannt, ebenso werden menschenfeindliche Einstellungen thematisiert. Am 22. Juli 2011 wurden auf der Insel 69 Menschen ermordet. 32 von ihnen sind unter 18 Jahre alt. Die Kinder und Jugendlichen verbringen auf Utøya ihre Ferien. Zum Zeitpunkt des Anschlags sind 564 Menschen auf der Insel.

Die Jugendlichen auf dem Sommercamp sind bei der Arbeidernes Ungdomsfylking kurz: AUF organisiert, der die Insel gehört. Die AUF wurden 1927 als Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet, also der Arbeiterpartei, gegründet. Die Vorgänger*innenorganisation der AUF ist der “Norges Sosialdemokratiske Ungdomsforbund”, die 1903 gegründet wurde. Ihr Motto war damals: “In Einigkeit und Glauben bis die Kapitalistentyrannei fällt!”

Über die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung hinweg beschäftigte sich die Organisation mit Generalstreiks, der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union oder auch der Kritik an dem Nordatlantikpakt, kurz NATO. Viele prominente Politiker*innen Norwegens sind ehemalige AUF-Mitglieder. Einer der bekanntesten dürfte Jens Stoltenberg sein, der zum Zeitpunkt des Anschlags auf Utøya das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. 

Heute steht die AUF für die Vision, “dass Einzelpersonen gemeinsam eine freie und gerechte Gesellschaft schaffen, in der Ökologie vor Ökonomie und menschliche Werte vor materiellem Wohlstand stehen.” Mit über 14.000 Mitgliedern ist die AUF die größte norwegische Parteijugendorganisation mit Gliederungen im ganzen Land. Die vier Kernarbeitsbereiche sind Schule und Arbeit, Gleichstellung und Inklusion, Klima und Umwelt sowie internationale Solidarität. 

Die Insel wurde der AUF 1950 von norwegischen Gewerkschaften gestiftet. Seit jeher ist sie ein traditioneller Ort, an dem sich die Funktionär*innen und Mitglieder der AUF treffen. Heute will die AUF dort drei Elemente vereinigen: Einerseits das Gedenken an die Ermordeten und andererseits auch das Erinnern daran, was am 22. Juli 2011 geschah und wie die Tat passieren konnte. Weiterhin ist Utøya ein Ort des Engagements und der Debatte für die Mitglieder der AUF, die sich ihren Ort nicht durch den Anschlag nehmen lassen wollten und wollen.

Dass dieser Balanceakt notwendig wurde, ist untrennbar mit Anders Breivik verbunden. Breivik setzte am 22. Juli  in einer Polizeiuniform auf die Insel über, nachdem er im Osloer Regierungsviertel eine Bombe zündete.  Er wollte möglichst viele auf der Insel töten. Die Kinder und Jugendlichen sind auf zweierlei Ebene ein symbolisches Ziel: Einerseits sind sie als junge Menschen der Nachwuchs der regierenden Arbeiterpartei, andererseits stehen sie als sozialdemokratische Organisation für ein Weltbild, dem Breivik in mörderischer Opposition entgegensteht. 

Der Westen und der Islam stellen für ihn unvereinbare Gegensätze dar. Migration würde dazu führen, dass die angeblich einheimische Bevölkerung durch eine als fremd markierte, muslimische Bevölkerung ausgetauscht würde. 

Eine weitere ideologische Komponente neben dem rassistischen Antiislamismus ist der Antifeminismus. Die Gleichstellung der Frauen und feministische Anliegen sind seiner Ansicht nach verantwortlich für den Geburtenrückgang, der die Reproduktion der europäischen Bevölkerung verlangsamt, während sich immer mehr Migrant*innen ansiedeln würden. 

Breivik sieht besonders die angeblichen linken Eliten in der Verantwortung dafür, dass der Westen den sogenannten Kulturkampf gegen die Islamische Welt verlieren würde. Mit ihren progressiven Ideen und einwanderungsfreundlicher oder feministischer Politik sieht Breivik die Linken in der Verantwortung dafür, dass der Westen den Kulturkampf gegen die Islamische Welt verlieren wird. Der Untergang des Abendlandes würde durch linke und sozialdemokratische Kräfte aktiv vorangetrieben.   

Zusammengefasst werden diese angeblichen Bestrebungen unter dem Begriff des Kulturmarxismus. Dieser verschlagwortet die Idee, dass so bezeichnete Marxist*innen oder Neomarxist*innen den Untergangs Europas konspirativ und geplant vorantreiben. Dabei geht es zum Beispiel um Gender Mainstreaming oder liberale Einwanderungspolitik. 

Linke, Liberale und Antifaschist*innen in Europa, die zum Beispiel für Einwanderung und Feminismus eintreten, werden also zu Agenten des imaginierten Niedergangs des Westens. Durch ihre Politik leisten sie – so die Vorstellung Breiviks – dem drohenden Untergang Vorschub. 

Konservative, Nationalisten und Christen müssen diesen feindlichen linken Kulturkrieger*innen eine “konservative Revolution” entgegenstellen. Breivik selbst sieht sich dabei als Märtyrer und Leuchtfigur der konservativen Revolution. Dabei inszeniert er sich als der Anführer eines Ritterordens, in dessen Namen er den Anfang der konservativen Revolution macht. 

Zur Verewigung seiner Vorstellung über den drohenden Niedergang Europas und zu ergreifenden Gegenmaßnahmen schreibt er ein umfassendes Manuskript, dass er an über 1.000 Empfänger*innen mailt, bevor er am 22. Juli 2011 nach Oslo aufbricht. Hieran wird deutlich: Breivik setzt seine Weltsicht nicht nur grausam um, sondern will sie darüber hinaus propagieren. 

In einem über 1.500 Seiten langem Pamphlet versammelt er die ideologischen Elemente des Antifeminismus, rassistische Vorstellungen über Muslim*innen und der angeblichen Gehirnwäsche durch die Kulturmarxist*innen. Dabei zitiert er aus einschlägigen rechtsextremen Essays sowie Blogs und Foren, auf denen er teilweise selbst aktiv war. 

Anders Breivik selbst sieht sich, wie er später auch im Prozess auch äußert, als ein moralisch handelnder Mensch, der nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Güte handle. Alles im Namen des Tempelritterordens, dessen Anführer er sei.

Breivik gibt sich in seinem Manifest als Anführer “Knights Templar” aus und behauptet, ein Nachfolger der legendären christlichen Tempelritter sein. Als Grundsätze der Knights Templar gibt er “Stärke, Ehre, Aufopferung und Märtyrertum” an. Das Motto seiner erdachten Organisation passt also zu seinem Vorhaben und legitimiert seine mörderische Intention. Allein: Der Ritterorden existiert schlichtweg nicht. Neben allen Unklarheiten im Prozess gegen Breivik steht nach umfassenden Ermittlungen fest: Die “Knights Templar” sind Produkt seiner Fantasie. Über den Geisteszustand Breiviks wurde nach der Tat nicht nur wegen des angeblichen Tempelrittertums hart gerungen.

Trotz dieser wahnhaft anmutenden Idee, dem offenkundigen Narzissmus und dem krassen Ausmaß an Empathielosigkeit wird er letztendlich vor Gericht für schuldfähig erklärt. Erst gibt es ein psychologischen Gutachten, dass eine Schizophrenie und damit eine Schuldunfähigkeit feststellte. Auf das Drängen der Überlebenden hin wurde ein zweites Gutachten erstellt, dass die erste Diagnose der Schizophrenie nicht bestätigt. Zwar attestierten die Zweitgutachter*innen ebenfalls eine narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörung – Breivik sei aber dennoch zurechnungsfähig und geistig gesund, und damit schuldfähig. Auch Breivik selbst forderte seine Schuldfähigkeit ein. Eine Verurteilung zu einer Therapie und das Stigma des psychopathischen Einzeltäters hätte das Bild, das er selbst von seiner Tat hinterlassen wollte, gestört.

Ein Jahr nach der Tat wurde er zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Das ist die Höchststrafe im norwegischen Strafgesetz. In seinem Schlusswort entschuldigte sich Breivik dafür, dass er nicht noch mehr Menschen ermordet hat. 

Breivik wurde von Bekannten als ein geselliger Mensch beschrieben, der sich immer mehr abwandte und schließlich die meiste Zeit im Internet mit Gaming und Lesen einschlägiger Seiten verbrachte, die seine Ideologie festigten.

Auch wenn er am 22. Juli alleine handelte, gab und gibt es viele Menschen, die Breiviks Weltsicht teilen, seine Tat begrüßen oder ihm nacheifern. Auch andere Terroristen beziehen sich auf Breivik: Fünf Jahre nach dem 11. Juli 2011 erschießt ein 18-jähriger neun Menschen im Olympia-Einkaufszentrum in München. Am 15. März 2019 wurden 51 Menschen in Christchurch in einer Moschee erschossen, ebenfalls von einem Rechtsterroristen. Breiviks Ideen waren also nicht nur seine eigenen, und sie wirken weiter fort. Er selbst will daran mitwirken.

Katja Demirici schreibt im Tagesspiegel anlässlich der Urteilsverkündung:

„In der Zukunft, das hat Breivik kürzlich angekündigt, wolle er Bücher schreiben. Aus der „Bürozelle“, die ihm bislang im Gefängnis zur Verfügung gestanden hatte, korrespondiert er mit seinen Anhängern. Auch aus der Gefangenschaft will er an der Revolution beteiligt sein, die er für notwendig hält. Und solange ihm jemand zuhört, wird er auch weitersprechen.“