Wie ist die Arbeidernes Ungdomsfylking, kurz AUF und auf Deutsch „Arbeiter*innen-Jugendliga“ aus Norwegen –, mit dem rechtsterroristischen Anschlag des 22. Juli 2011 umgegangen?
Wir haben mit Julia Eikeland und Janin gesprochen. Julia ist Mitglied im Bundesvorstand der AUF und für den internationalen Bereich zuständig. Julia war, als das Attentat passiert ist, elf Jahre alt und im Urlaub in Deutschland mit ihren Eltern. Sie ist erst viele Jahre nach dem Anschlag zur AUF gekommen.
Julia berichtet, wie sie von dem Anschlag mitbekommen hat:
„… actually, and I remember my mom told me we were just chillin in our apartment and it was a hot and sunny day. And she told me that a bomb had gone off in Oslo. And I remember that I was really shocked and I went all over the media and you could see a lot of things. And I read a lot about things that was happening, but I didn’t quite understand what was going on.“
Übersetzung Deutsch: „Und ich erinnere wie meine Mutter es mir erzählt hat. Wir waren gerade in der Ferienwohnung und es war ein heißer sonniger Tag. Und sie erzählte mir, dass in Oslo eine Bombe detoniert war. Und ich erinnere mich daran, dass ich schockiert war und ich habe die Medien durchforstet und man konnte dort ziemlich viel sehen was passierte. Und ich habe eine Menge Dinge gelesen die passierten aber ich habe es nicht ganz verstanden.“
Für Janin, die das Attentat überlebt hat, und auf der Insel, ihre engsten Freund*innen verloren hat, hat es lange gedauert, den Anschlag aufzuarbeiten:
„Ich hatte gar kein Gefühl mehr der Sicherheit. Ich habe niemanden mehr getraut. Weder Freunden noch Polizei. Sobald ich einen Polizisten gesehen habe, gingen bei mir die Alarmglocken an. Ich wurde panisch. Ich habe gesagt: Bring ihn raus, bring ihn raus. Ich will ihn nicht sehen. Das Problem war halt auch, dass Polizisten auch das Krankenhaus bewacht haben, in dem ich lag. Es lagen ja auch noch viele anderen Überlebenden dort. Die Presse hat sich natürlich, wie sonst was auf die Überlebenden gestürzt um die besten Schlagzeilen zu bekommen. Deswegen wurde Verstärkung gerufen. Den einzigen Menschen, denen ich danach noch getraut habe, waren meine Eltern. Ich wollte niemanden sehen und wollte niemanden außer ihnen in meiner Nähe haben. Ich habe mich nur noch bei ihnen geschützt gefühlt. Mein Vertrauen war komplett weg. Es hat Jahre gedauert, bis ich mir sagen konnte: es war halt ein Einzelfall. Er war als Polizist verkleidet und die richtige Polizei hat dich da runter geholt und hat dir geholfen. Es hat Jahre gebraucht, bis ich da wieder Vertrauen gefasst habe.“
Kurz nach dem Anschlag in Oslo und auf Utøya findet das IUSY Festival am Attersee in Österreich statt. Die International Union of Socialist Youth, kurz IUSY, ist eine Dachorganisation sozialistischer Jugendverbände. Auch Überlebende des Anschlags von Utøya sind als Gäste angemeldet. Anna Bruckner, damals als Vizepräsidentin der IUSY, ist an der Organisation des Festivals beteiligt. Anna und das Organisationsteam des Festivals erfahren während der Aufbauarbeiten von der Tat:
„Und dann kam diese Nachricht, und wir haben zuerst noch gar nicht über das Attentat auf der Insel gehört und wie das dann halt so ist, wenn politische Leute zusammenhängen, man verfolgt ja die Nachrichten, und dann war zuerst das Attentat in der Innenstadt, und das haben wir so vernommen sozusagen, ‚ah okay, war scheiße‘, aber wusste ja irgendwie noch gar nichts, und man hat das irgendwie mal zur Kenntnis genommen, dass da irgendwie was Doofes passiert ist. Und dann kam die Nachricht, dass auf der Insel, wo unsere Genossinnen und Genossen sind, ein Attentat ist. Und, genau, wir waren da gerade am Camp, und das war, ehrlich gesagt, erstmal komplett surreal. Die einzige Person, die es wirklich, ein bissel realisiert hat, war meine Genossin Sandra Breiteneder, weil die damals die internationale Arbeit gemacht hat und deswegen sehr viele Leute kannte, die auf der Insel gerade waren, auf Utøya waren.“ (Anna)
Anna und ihr Team werden Schritt für Schritt in die Realität gerissen.
„Also es war so, dass es totale Gaps gab im Team zwischen jenen, die gerade wirklich realisieren, was passiert, und jenen, die das gerade überhaupt nicht einordnen können. Also die Tragweite war in dem Moment eigentlich überhaupt nicht klar, sondern es ist ja immer so Schritt-für-Schritt, peu à peu sozusagen, es sind ja die Infos rausgekommen, was da eigentlich gerade wirklich passiert, und dass das auch eben eine politisch motivierte Tat von rechts ist, und ich glaube, wir haben es realisiert, als wir sozusagen als Orgateam plötzlich in die Realität gerissen wurden, weil einfach ein nettes kleines Festival, das in Österreich wirklich wie wär das weniger Auflagen als in Deutschland organisiert werden kann, wir plötzlich mit dem Innenministerium sprechen mussten, weil wir plötzlich den Bundeskanzler am Telefon hatten, und die Parteivorsitzende der SPÖ, die uns gefragt hat, ob wir das denn jetzt überhaupt machen könnten, dieses Festival umzusetzen. Also es war eine Situation, wo klar war, einerseits werden auf organisatorischer Ebene gerade Bombenspürhunde angemeldet, die jetzt über das Camp gehen würden, und gucken würden, ob da für uns eine Bedrohungslage da ist, das BK et cetera, …“ (Anna)
Für Anna und das Organisationsteam stellt sich die Frage danach, wie sie mit der Lage umgehen.
„… und auf der anderen Seite eben die politische Fragestellung: Was ist das richtige zu tun? Ist es das richtige, abzusagen? Oder ist es das richtige, nicht abzusagen? Und für beides gibt es ja ganz viele Argumente und gab es ganz viele Argumente, und es war, ehrlich gesagt, ganz schnell sehr klar, dass wir nicht absagen würden.“
Nach 2011 verzeichnet die AUF zunächst einen erheblichen Mitgliederzuwachs. Den Anschlag auf die AUF nehmen viele junge Menschen zum Anlass, sich politisch zu engagieren. Sie treten der AUF aus Solidarität mit den Opfern bei. In den Köpfen eingebrannt bleibt der Satz von Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg: „Unsere Antwort lautet: Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“
Überall in Norwegen und international bekundeten Menschen ihre Solidarität mit den Opfern von Utøya und Oslo. Die Bilder von den Blumen- und Fahnenmeeren bleiben im Kopf. Pete Seegers Lied My Rainbow Race wurde zur Hymne für die Opfer des 22. Juli. Bei den Kommunalwahlen bleibt die Arbeiterpartei wie gewohnt stärkste Kraft. So entstand der Eindruck, der Verband sei gestärkt aus dem Attentat und aus der Phase der Trauer hervorgegangen.
Nach dem 22. Juli 2011 begann ein Prozess der Aufarbeitung. Die Genoss*innen, die den Anschlag überlebt hatten, waren traumatisiert. Manche von ihnen entschieden sich, weiterzumachen und für ihre politischen Ziele zu kämpfen. Für andere, berichtet uns Julia, war es schwieriger oder gar unmöglich, weiter politisch aktiv zu sein.
“They didn’t want to be on Utoya they didn’t want to to get involved in politics again because they were so traumatized and everything was so hard, which is very, very understandable. And of course, the happening had a very big impact on AUF in the years after the terror attack. I like everything I have been told. It was very hard because the organization couldn’t be as normal. They couldn’t, like, discuss normal political things. They were using all their time on building up their organization because it was very difficult to run an organization that was completely destroyed in many ways. Because you have lost a lot of members, you lost a lot of the leaders in the counties and and stuff like that, and many had a lot of trauma and they were very traumatized. But AUF got up again, and they used so much time to build up AUF to take Utoya back.”
Übersetzung Deutsch: „Sie wollten nicht auf Utøya sein, sie wollten mit Politik nichts mehr zu tun haben, weil sie so traumatisiert waren und alles sehr hart für sie war, was ja auch verständlich ist. Nach allem, was ich gehört habe, hatte das Geschehene in den Jahren nach dem Anschlag noch einen großen Einfluss auf die AUF. Es war sehr schwer denn die Organisation konnte sich nicht so normal sein. Die AUF konnte nicht einfach normale politische Dinge thematisieren. Sie waren mit all ihren Kapazitäten damit beschäftigt die Organisation wiederaufzubauen, weil es war sehr schwierig war eine Organisation zu führen, die in vielerlei Hinsicht völlig zerstört wurde. Sie hatte viele Mitglieder verloren, sie hatte viele wichtige Personen aus verschiedenen Bezirken verloren und viele waren sehr traumatisiert. Aber die AUF ist wieder zu neuer Stärke gekommen und konnte Utøya wiederaufbauen.“
Jana Hermann, eine ehemalige Bundesvorsitzende der Falken, resümiert:
„Die Vermutung, dass die AUF durch ihr Schicksal und den Aufarbeitungsprozess letztlich vor allem an Kraft und gesellschaftlichen Zuspruch gewonnen hätte, täuscht jedoch ebenso sehr wie die falsche Hoffnung, dass die Norweger*innen durch den rechten Anschlag zu einem Volk von Antifaschist*innen zusammengewachsen wären. Die Überlebenden des 22. Juli 2011 sind trotz oder gerade wegen ihrer erfolgreichen Flucht seit Jahren massiven gesellschaftlichen Schmähungen, insbesondere von rechter und konservativer Seite ausgesetzt. Viele von ihnen erhalten regelmäßig Drohbriefe, in denen man ihnen wünscht, sie wären bei dem Massaker ebenfalls ums Leben gekommen.“
Zehn Jahre nach dem 22. Juli bleibt die Frage nach der Erinnerung auch gesellschaftlich aktuell. Janin hebt einen positiven Aspekt hervor:
„Dem Täter wird in Norwegen so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Das finde ich gut. Er wird auch nicht beim Namen genannt, sondern nur ‚der Täter‘. Der Fokus liegt sehr auf der Erinnerung der Opfer. Es gibt viele Gedenkstätten. Das finde ich besser. Die Opfer sind die Menschen an die man erinnern sollte und die Überlebenden sind diejenigen denen man helfen sollte. Der Täter hat für mich gar keine Bedeutung mehr.“
Dennoch verläuft der gesellschaftliche Aufarbeitungsprozess nicht konfliktlos. Das zeigt sich in den Diskussionen um ein fehlendes öffentliches Denkmal für die Opfer von Utøya. Die norwegische Regierung hatte den schwedischen Architekten Jonas Dahlberg beauftragt, ein Denkmal für die Opfer von Utøya zu entwerfen. Ursprünglich sah der Entwurf vor, einen Spalt durch die Insel Utøya zu ziehen. Auf der einen Seite der Felswand sollten die Namen der Verstorbenen stehen, in der gegenüberliegenden Felswand sollte ein Balkon sein, von dem sich die andere Felswand betrachten lässt. Später wurde der Entwurf dahingehend geändert, dass die künstliche Felsschlucht durch eine Halbinsel am Ufer des Sees führen soll, damit das Denkmal öffentlich zugänglich ist. Anwohner*innen protestierten jedoch gegen das Denkmal und reichten 2016 Klage ein. Sie wollen nicht ständig an den Tag des Attentats erinnert werden. Sie wollen ihre Ruhe vor den befürchteten hohen Besucher*innenzahlen, die vor Ort gedenken wollen. Viele von ihnen hatten den verletzten Jugendlichen am 22. Juli geholfen und sind mit Booten auf den See herausgefahren, und haben die schwimmend fliehenden jungen Genoss*innen aus dem Wasser gezogen.
Später wurden die Pläne für ein staatliches Denkmal noch einmal komplett überarbeitet. Der neue Entwurf sieht nun vor, dass 77 jeweils drei Meter hohe bronzene Stelen – stellvertretend für die 77 Opfer in Oslo und auf Utøya – bei der Anlegestelle zur Fähre nach Utøya am Ufer errichtet werden sollen. Auch hiergegen protestierten Anwohner*innen.
Die Angehörigen der Opfer sehnen sich derweil nach einem Ort, wo sie derer gedenken können, die sie verloren haben. Auch die AUF fordert, ein Denkmal an der Anlegestelle zu errichten, zumal Angehörige schon jetzt dort hinkommen, um zu gedenken.
Schon vor einigen Jahren hat die AUF ein provisorisches Denkmal errichtet. Es ist ein silbern-metallener Ring, der auf der Insel aufgehängt ist. Im Inneren des Rings sind die Namen der Verstorbenen zu lesen.
Auch der große Speise- und Versammlungssaal auf Utøya ist zu einem Ort des Erinnerns und Gedenkens geworden. Über ihm hat die AUF ein Gebäude errichtet, in dem sich ein Museum mit Bildungsstätte befindet. Der alte Saal befindet sich im Innern des Museumsgebäudes. Das Gebäude ist von außen halb verspiegelt, sodass der Saal nicht im Vorbeigehen sichtbar ist. Manchen Überlebenden war das ständige Erinnertwerden an das Massaker, das sie mit dem Saal verbanden, unerträglich. Anderen war es wichtig, in den Saal zurückkehren zu können, um zu erinnern. Mit dem Museum ist der Saal nun zu einem Ort geworden, den besuchen kann, wer sich erinnern will, der aber nicht ungefragt erinnert wird. Utøya soll auch weiterhin ein Ort sein, an dem Jugendliche Spaß haben können, ohne ständig mit dem Attentat konfrontieret zu sein, entschied die AUF.[10]
Vier Jahre nach dem Attentat veranstaltete die AUF erstmals nach dem Attentat wieder ein Sommercamp auf der Insel.
“So after the time of 22nd of July, it was very hard to know if a AUF should take back there or if they should not. So when a lot of people wanted not to take it back. But at the end of the day, they they took it back. And in 2015, after four years after the attack, they we had our first summer camp after after the attack. And many people now, like in 2011, they didn’t want to take the island back. But now they are very happy that they did it because it’s a symbol that love wins over hate.” (Julia)
Übersetzung Deutsch: Nach der Zeit vom 22. Juli war es sehr schwer zu wissen ob die AUF auf die Insel zurückkehren sollte oder nicht. Viele Leute wollten nicht zurück aber am Ende sind sie doch zurückgekehrt. Und in 2015, vier Jahre nach dem Anschlag hatten wir unser erstes Sommercamp nach dem Anschlag. Und viele wollten ursprünglich nicht zurück auf die Insel aber im Endeffekt waren sie sehr glücklich, dass sie es getan haben, weil es ein Symbol dafür war, dass Liebe über Hass siegt.
Seitdem stehen die Camps auf Utøya unter Polizeischutz. Auch dies wurde in der AUF kontrovers diskutiert: Zwar soll damit gezeigt werden: Hier ist es sicher. Für einige Überlebende aber hat der Anschlag das Vertrauen in die Polizei gebrochen.
„Sobald ich einen Polizisten gesehen habe, gingen bei mir die Alarmglocken an. Ich wurde panisch. Ich habe gesagt: Bring ihn raus, bring ihn raus.“ (Janin)
Sie fühlten sich gerade wegen der Anwesenheit der Polizei unsicher. Manche Überlebende entschieden sich daher, nicht mehr nach Utøya zurückzukehren.
Mehr als zehn Jahre nach dem 22. Juli 2011 bleibt die Frage des Gedenkens aktuell. Die Auseinandersetzungen um ein staatliches Denkmal, um die Gestaltung der Zeltlager auf Utøya, um das Museum auf der Insel, um das Trauern und das Erinnern an die verlorenen Genoss*innen und Freund*innen werden die AUF noch lange befassen.